Süddeutsche Zeitung
23. Oktober 2006
Bierflaschen am Bett;
Neue Vorwürfe gegen das Bremer Jugendamt: Schlamperei im Fall eines vernachlässigten Dreizehnjährigen
Von Ralf Wiegand
In den kommenden Wochen hätten Zeitungsleser von Flensburg bis Garmisch erfahren sollen, "was an Bremen toll ist". Das kleinste deutsche Bundesland hatte schon die Anzeigenplätze in mehreren großen Tageszeitungen gebucht, um mit einer Imagekampagne auf sich aufmerksam zu machen. Nun wird die Aktion bis mindestens Januar verschoben, "das Geld wäre im Moment nicht sinnvoll ausgegeben", sagt Klaus Sondergeld von der Bremen Marketing GmbH. Hinter den Geschichten von Kevin und Florian treten alle Schönheiten der Hansestadt zurück - die Anzeigen wurden storniert.
Der 13-jährige Florian ist eines von zwei Kindern, auf dessen Schicksal hohe Politiker ausdrücklich aufmerksam gemacht wurden. Das andere war Kevin, der am 10. Oktober tot in der Wohnung seines Vaters gefunden worden war. Beide Namen hatte der Vorstand des Bremer Hermann-Hildebrand-Hauses, einem Kinderheim für besondere Notfälle, dem Bremer Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) übermittelt, weil sie exemplarisch für eine kritisch zu bewertende Rückgabepraxis von Kindern in verwahrloste Familien stünden. Böhrnsen schaltete daraufhin die inzwischen zurückgetretene Senatorin für Soziales, Karin Röpke (SPD) ein, die wiederum die Leitung des Jugendamts bat, sich dieser Kinder ganz besonders anzunehmen. Die Folgen sind bekannt: Kevin starb, weil er trotz zahlreicher Hinweise auf die Überforderung seines alleinerziehenden Vaters bei ihm bleiben musste. Und Florian? "Bei ihm waren die Verhältnisse fast noch schlimmer", sagte Joachim Pape, der Leiter des Hermann-Hildebrand-Hauses. Im Polizeibericht hatte er gelesen, dass die Wohnung, aus der Florian geholt worden war, wie eine Müllhalde ausgesehen habe. Nicht einmal Bettwäsche habe es gegeben (SZ vom 13. Oktober). Trotzdem durfte auch dieser Junge nach Weisung des Jugendamtes nicht im Heim bleiben.
Erst in der vergangenen Woche, als Bürgermeister Böhrnsen in einer Reaktion auf Kevins Tod auch sein Wissen über den Fall Florian preisgab, begann die Behörde zu recherchieren, was aus dem Jungen geworden ist - er war noch immer bei seiner völlig überforderten Mutter. Wenige Tage nach Kevins Tod gelang, was fast ein Jahr lang anscheinend nicht möglich gewesen war; für das Kind wurde eine Pflegefamilie gefunden.
Das Magazin Focus präzisiert in seiner aktuellen Ausgabe die Umstände, unter denen Florian leben musste. Im Polizeibericht war demnach von "einer Müllhalde aus leeren Alkoholflaschen, Tetrapacks und verschimmelten Essensresten" die Rede, als das Kind im Oktober 2005 aus der Wohnung geholt wurde. Es habe kein Licht in der Wohnung gegeben; neben Florians Bett hätten Bierflaschen und Hausmüll gelegen. Florians Mutter sei nicht ansprechbar, weil alkoholisiert gewesen. Die Beamten hätten Anzeige wegen Verletzung der Fürsorgepflicht erstattet. Dennoch schickte das Jugendamt den damals Zwölfjährigen zwei Tage, nachdem er ins Hermann-Hildebrand- Haus gebracht worden war, wieder nach Hause. Seine Mutter hatte angeblich schon im Sommer 2005 eingewilligt, den Jungen in eine Pflegefamilie zu geben.
Der Druck auf die verantwortlichen Stellen wächst. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung fürchtet die Bremer Sozialbehörde, aufgrund von Statistiken in Erklärungsnotstand zu geraten. Demnach ist die Zahl der so genannten Fremdplatzierungen, also Unterbringungen von Kindern außerhalb ihrer Familien, nicht kleiner geworden. Allerdings ist zu erkennen, dass zunehmend die billigeren Varianten gewählt worden sind, also Pflegefamilie statt Heim und ambulante Hilfe statt Pflegefamilie. An internen Vermerken ist zu erkennen, dass die Behörde fürchtet, Kevin und ähnliche Fälle könnten ein Ergebnis der Bremer Sparpolitik sein - was offiziell stets bestritten worden ist. Unterdessen hat das Bremer Institut für Rechtsmedizin mitgeteilt, dass Kevin nicht an den Folgen unmittelbarer Gewalteinwirkung gestorben ist. Wegen des starken Verwesungsgrades der Leiche ließen sich Todeszeitpunkt und Todesursache erst nach aufwendigen Gewebeproben präzisieren.