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Diese gekürzte Übersetzung des Urteils stammt von einer österreichischen HP:
application no. 64927/01 - Palau-Martinez gegen Frankreich
Urteil vom 16.12.2003, Kammer II
Sorgerechtsstreitigkeiten und diskriminierende Behandlung aufgrund der Religionszugehörigkeit
Art. 8 EMRK
Art. 14 EMRK
Sachverhalt:
Die Bf., eine französische Staatsangehörige, lebt in Spanien. 1983 heiratete sie R., der Ehe entstammen zwei 1984 bzw. 1989 geborene Kinder. Im August 1994 verließ ihr Mann die eheliche Wohnung und zog zu seiner Geliebten. In der Folge beantragte die Bf. die Ehescheidung. Das Gericht gab ihrem Antrag statt. Es ordnete an, dass die Kinder bei der Mutter in Spanien verbleiben sollten, ferner wurde dem Vater ein Besuchsrecht eingeräumt.
Die Bf. erhob dagegen ein Rechtsmittel und beantragte eine Neuregelung des Besuchsrechts. Sie brachte vor, dass ihr Exgatte die Kinder am Ende der Sommerferien nicht zurückgebracht und sie außerdem für den Schulbesuch in Frankreich angemeldet habe. Die Kinder seien von R. derart beeinflusst worden, dass sie erklärt hätten, fortan bei ihm leben zu wollen.
Anhand von Fotografien und anderen Belegen sei erkennbar, dass sie der Erziehung ihrer Kinder stets viel Aufmerksamkeit gewidmet und ihnen auch einen großen Freiraum, was Aktivitäten anlange, gewährt habe. Sie ersuche ferner um baldige Veranlassung eines familienpsychologischen Gutachtens.
Am 14.1.1998 wurde das Urteil hinsichtlich des Ausspruchs der Scheidung bestätigt. Zur Frage des Aufenthaltsortes der Kinder stellte das Gericht zweiter Instanz Folgendes fest:
„Die zwei minderjährigen Kinder C. und M. leben zur Zeit bei ihrem Vater in Aigues-Mortes, wo sie zur Schule gehen. Es trifft zu, dass diese Situation von R. herbeigeführt wurde, indem er die Kinder entgegen der gerichtlichen Anordnung am Ende der Sommerferien nicht zurückgebracht hat. Zu seiner Rechtfertigung gab er an, im Interesse seiner Kinder gehandelt zu haben, um diese dem unheilvollen Einfluss der Mutter und ihrer Umgebung – der sich im Zwang zur Teilnahme an den Praktiken der Zeugen Jehovas geäußert hätte – zu entziehen.
Von R. wurde der schriftlich vorgebrachte Wunsch seines Kindes C., bei seinem Vater leben zu wollen, vorgelegt, ferner ein psychiatrisches Gutachten, wonach C. die Bevormundung seiner Mutter durch die Zeugen Jehovas als schmerzhaft und frustrierend empfinde und M. sehr unter den religiösen Zwängen leide.
Das Gericht stellt fest, dass der Wunsch der Kinder, nicht nach Spanien zurückkehren zu müssen, von zahlreichen weiteren Zeugenaussagen belegt wird.
Frau Palau-Martinez hat weder ihre Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas abgestritten, noch die Tatsache, dass sie ihre Kinder gemäß den Praktiken dieser Religion erzieht. Sie hat wiederholt beteuert, dass sie ihren Kindern Zuneigung schenke und auf ihr Wohlbefinden bedacht sei [...]. Andererseits stehen die beigeschafften Dokumente auch nicht im Widerspruch zum Vorbringen von R., wonach seiner Exgattin keineswegs mütterliche Qualitäten abzusprechen seien, sondern seine Kritik sich lediglich auf die Erziehung der Kinder gemäß den religiösen Überzeugungen der Mutter beschränke.
Das Gericht weist darauf hin, dass die von den Zeugen Jehovas angewendeten erzieherischen Maßnahmen auf Kinder ihrer Anhänger grundsätzlich kritikwürdig sind, dies angesichts ihrer Härte, ihrer Intoleranz und der Verpflichtung der Kinder, andere bekehren zu müssen.
Es liegt zweifelsohne im Interesse der Kinder, den Zwängen und Bevormundungen einer Religion, die wie eine Sekte strukturiert ist, zu entkommen. Es besteht auch kein Grund, ein familienpsychologisches Gutachten in Auftrag zu geben, da ein solches die Kinder nur erneut belasten würde.
Mit Rücksicht auf das vorhin Gesagte und entgegen der Entscheidung des Erstgerichts wird nunmehr als Aufenthaltsort der beiden minderjährigen Kinder der Wohnsitz des Vaters festgelegt [...]. Frau Palau-Martinez wird ein Besuchsrecht und ein Übernachtungsrecht im Haus ihres Exgatten für folgende Zeiträume gewährt: [...]“
Ein von der Bf. beim Höchstgericht eingebrachtes Rechtsmittel blieb erfolglos.
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptet, die Festlegung des Aufenthaltsortes der Kinder am Wohnsitz des Vaters stelle eine Verletzung ihres Rechts auf Privat- und Familienleben gemäß Art. 8 EMRK und überdies eine diskriminierende Behandlung iSv. Art. 14 EMRK dar. Sie rügt ferner Verletzungen von Art. 9 EMRK (Recht auf Religionsfreiheit) sowie von Art. 6 (1) EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), allein und iVm. Art. 14 EMRK.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK iVm. Art. 14 EMRK:
Der GH stellt fest, dass die Kinder der Bf. zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz beinahe dreieinhalb Jahre bei ihrer Mutter gelebt haben, gerechnet ab dem Auszug des Vaters aus der ehelichen Wohnung. Es liegt somit ein Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Familienlebens vor.
Bei seiner Entscheidung über die Festlegung des Aufenthaltsortes der Kinder nahm das Gericht zweiter Instanz eine Bewertung der familiären Umstände vor, mit denen sich die Kinder in der alleinigen Hausgemeinschaft mit dem Vater bzw. der Mutter konfrontiert sahen.
Es stützte sich dabei zum einen auf den schriftlich geäußerten Wunsch von C., beim Vater leben zu wollen, ferner auf ein psychiatrisches Gutachten und zahlreiche weitere Zeugenaussagen, zum anderen auf Beteuerungen der Mutter, wonach sie ihren Kindern immer Zuneigung geschenkt habe und stets auf ihr Wohlbefinden bedacht gewesen sei.
Aus den anschließenden Erörterungen geht hervor, dass der Religion der Bf. offenbar ein entscheidender Stellenwert zugemessen wurde. So ist etwa auf die Aussage zu verweisen, wonach „die von den Zeugen Jehovas angewendeten erzieherischen Maßnahmen auf die Kinder ihrer Anhänger grundsätzlich kritikwürdig sind, dies angesichts ihrer Härte, ihrer Intoleranz und der Verpflichtung der Kinder, andere bekehren zu müssen“, ferner auf die Feststellung, dass es zweifelsohne im Interesse der Kinder liege, „den Zwängen und Bevormundungen einer Religion, die wie eine Sekte strukturiert ist, zu entkommen“.
Es steht somit außer Zweifel, dass das Gericht zweiter Instanz – im Wege des Abstellens auf die Religionszugehörigkeit der Bf. – eine Unterscheidung zwischen den Elternteilen vorgenommen hat.
Im vorliegenden Fall lag der unterschiedlichen Behandlung ein legitimes Ziel, nämlich der Schutz der Interessen der Kinder, zugrunde. Im Folgenden ist zu prüfen, ob die zur Erlangung dieses Zieles getroffenen Maßnahmen, nämlich die Festlegung des Aufenthaltsortes der Kinder am Wohnsitz des Vaters, verhältnismäßig waren. Zunächst ist festzuhalten, dass das Gericht zweiter Instanz zu den Zeugen Jehovas lediglich Feststellungen allgemeiner Art getroffen hat.
Im Urteil fehlen jegliche konkrete und direkte Hinweise darauf, dass die Religion der Bf. auf die Erziehung der Kinder oder deren tägliches Leben einen Einfluss genommen bzw. dass sie diese bei Bekehrungsgängen mitgenommen hätte. Von Relevanz ist ferner, dass auch von der beantragten Einholung eines familienpsychologischen Gutachtens – eine in Sorgerechtsstreitigkeiten durchaus gängige Maßnahme – Abstand genommen wurde.
Ein solcher Bericht hätte zweifellos konkrete Hinweise auf das Zusammenleben der Kinder mit ihrem jeweiligen Elternteil geliefert und wäre auch geeignet gewesen, eventuelle Auswirkungen der Religionsausübung der Mutter auf das Leben und die Erziehung der Kinder – vor allem während der Zeit, wo diese ausschließlich bei der Mutter lebten – festzustellen.
Im gegenständlichen Fall hat sich das Gericht zweiter Instanz lediglich in abstrakter Weise zur vorliegenden Situation geäußert bzw. Überlegungen allgemeiner Natur angestellt, ohne eine Verknüpfung zwischen den Lebensbedingungen der Kinder bei ihrer Mutter und ihren tatsächlichen Interessen herzustellen.
Die Beweggründe dafür waren zwar relevant, aber nicht ausreichend. Verletzung von Art. 8 EMRK iVm. Art. 14 EMRK, eine inhaltliche Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK alleine ist nicht notwendig (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richterin Thomassen).
Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzungen von Art. 9 EMRK und Art. 6 (1) EMRK, allein und iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
EUR 10.000,-- für immateriellen Schaden, EUR 4.125,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Anm.: Vgl. das vom GH zitierte Urteil Hoffmann/A v. 23.6.1993, A/255-C (= NL 1993/4, 27 = EuGRZ 1996, 648 = ÖJZ 1993, 853).
C.S.
[editiert: 02.08.04, 23:38 von Ingrid]