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Hier ist eine Teilübersetzung des nur in Französisch veröffentlichten und sehr unbekannten Urteil:
die erste Übersetzung:
39547/98 Niederböster gegen Deutschland
Sachverhalt:
Der Bf. ist Vater der 1985 außerehelich geborenen Tochter Isa. Bereits vor der Geburt des Kindes war es zu Spannungen zwischen den Eltern gekommen, die sich weiter fortsetzten. Trotz der Tatsache, dass sein Wohnsitz in 300 km Entfernung lag, besuchte der Bf. seine Tochter bis zum Sommer 1989 in regelmäßigen Abständen und kümmerte sich zeitweise während des Tages um sie. Nach einer einjährigen Besuchspause lebte der Kontakt des Bf. mit seiner Tochter bis Ende des Jahres 1990 wieder auf, bevor die Mutter endgültig jeglichen Kontakt untersagte.
1991 beantragte der Bf. beim Amtsgericht Bonn die Gewährung eines Besuchsrechts für seine Tochter. Der Antrag wurde abgelehnt: Angesichts der zwischen den Eltern bestehenden Spannungen und des zwanghaften Verhaltens des Bf. gegenüber seiner Tochter wäre ein Besuchsrecht nicht im Interesse des gemäß § 1711 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zu berücksichtigenden Kindeswohls. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos. Am 24.3.1993 wurde ein weiterer Antrag des Bf. auf Gewährung des Besuchsrechts mit einer ähnlichen Begründung abgewiesen und eine Neubeurteilung der Familiensituation nach einer Ruhezeit von zwei Jahren in Aussicht gestellt.
Der Bf. wandte sich am 23.6.1993 neuerlich mit einem Antrag an das Amtsgericht Bonn. Nachdem dieser ergebnislos verlaufen war, erhob er am 7.11.1994 Bsw. an das Bundesverfassungsgericht und behauptete, § 1711 BGB sei verfassungswidrig. Ferner ersuchte er um rasche Behandlung seines Antrags aufgrund seines fortgeschrittenen Alters und eines Herzleidens. Von 1995 bis 1998 kam es zu einem Briefwechsel zwischen dem Bf. und dem Bundesverfassungsgericht. Der Bf. wurde darüber informiert, dass sein Antrag aufgrund mehrerer zuvor eingebrachter, gleichartiger Eingaben in Evidenz gehalten werde und vorerst das Ergebnis dieser Verfahren abzuwarten sei. Am 15.2.1996 teilte ihm die berichterstattende Richterin mit, dass eine Entscheidung bis Jahresende angestrebt werde.
Am 20.11.1997 beantragte der Bf. beim Amtsgericht Bonn erneut die Gewährung eines Besuchsrechts. In der Folge wurde dem Bf. vom Bundesverfassungsgericht der Vorschlag unterbreitet, seine Bsw. angesichts des baldigen Inkrafttretens der Kindschaftsrechtsnovelle, wodurch auch die Beziehungen eines Kindes zu seinem außerehelichen Vater neu geregelt würden, als erledigt zu betrachten. Am 30.4.1998 wies das Amtsgericht Bonn den Antrag mit der Begründung ab, dass sich die Situation nicht geändert habe. Der Bf. erhob dagegen ein Rechtsmittel an das Landgericht. Die Parteien kamen schließlich überein, dass Vater und Tochter den Kontakt wieder aufnehmen sollten. Es wurden mehrere Besuchstermine vereinbart, die jedoch einvernehmlich wieder gelöst wurden.
Am 10.8.1998 teilte der Bf. der berichterstattenden Richterin mit, dem Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts nicht zustimmen zu wollen. Diese informierte ihn darüber, dass seiner Bsw. angesichts der mit 1.7.1998 in Kraft getretenen Kindschaftsrechtsnovelle keine grundsätzliche Bedeutung mehr zukomme und insofern keine Aussicht bestehe, dass diese für zulässig erklärt würde. Eine Erstattung seiner Aufwendungen sei überdies nur möglich, wenn er sich bereit erkläre, die Bsw. als erledigt zu betrachten. Der Bf. erklärte sich schließlich mit dieser Vorgangsweise einverstanden, worauf dem Bundesland Nordrhein-Westfalen mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 1.12.1998 die Erstattung der Auslagen aufgetragen wurde.
Anfang Oktober 1999 sah der Bf. seine Tochter zum ersten Mal wieder. Das bisher letzte Treffen fand im Jahr 2000 aus Anlass des 85. Geburtstages des Bf. statt.
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung seines Rechts auf angemessene Verfahrensdauer gemäß Art. 6 (1) EMRK, insb. im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:
Der für die Beurteilung der Angemessenheit relevante Zeitraum begann am 23.6.1993, dem Tag, an dem die Rechtsstreitigkeiten begannen, und endete mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 1.12.1998. Die Dauer des Verfahrens beläuft sich somit auf fünf Jahre, fünf Monate und acht Tage.
Der GH verweist auf seine st. Rspr., wonach die Abwicklung von Besuchs- und Sorgerechtsregelungen zügig zu erfolgen hat. Es besteht kein Zweifel, dass die Verfassungsbeschwerde komplexe Fragen, insb. iZm. der unterschiedlichen Behandlung von ehelichen und nichtehelichen Vätern, aufwarf. Andererseits wurde die erste Verfassungsbeschwerde dieser Art nachweislich bereits im Jahr 1988 beim Bundesverfassungsgericht anhängig gemacht. Dieser Umstand ist insofern von Interesse, als das Bundesverfassungsgericht zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinbringung seitens des Bf. bereits seit sechs Jahren mit dieser Problematik befasst war.
Was das Verhalten des Bf. anlangt, ist festzuhalten, dass die Dauer von fast sechs Monaten, die bis zu seiner Antwort auf den Vorschlag der berichterstattenden Richterin verstrich, nicht gerechtfertigt erscheint.
Zum Verhalten der Behörden ist Folgendes festzuhalten: Zum Zeitpunkt der Anhängigmachung der Bsw. vor dem Bundesverfassungsgericht war in Deutschland eine breit angelegte Reform des Familienrechts im Gange, die mit dem Inkrafttreten der Kindschaftsrechtsnovelle am 1.7.1998 ihren Abschluss fand.
Die Reg. bringt vor, dass es dem Bundesverfassungsgericht unter diesen Umständen nicht zumutbar gewesen wäre, § 1711 BGB aufzuheben und dem Gesetzgeber eine Frist für dessen Änderung vorzugeben. Die Zivilgerichte hätten für den Fall eines anhängig gemachten Verfahrens ebenfalls das Inkrafttreten der Novelle abwarten müssen.
Der GH hält somit fest, dass der Bf. zu diesem Zeitpunkt, nämlich vor dem Inkrafttreten besagter Novelle, auf eine anderslautende Entscheidung der Zivilgerichte – mit Richtung auf die Gewährung eines Besuchsrechts – nicht vertrauen durfte. Auch wenn man von der Annahme ausgeht, dass das Bundesverfassungsgericht eine für den Bf. positive Entscheidung im Wege der Aufhebung der relevanten zivilgerichtlichen Entscheidungen getroffen hätte, wären die Zivilgerichte dennoch verpflichtet gewesen, die Entscheidung über den Antrag des Bf. bis zum Inkrafttreten der Kindschaftsrechtsnovelle auszusetzen.
Die besondere Rolle der Verfassungsgerichte für die nationalen Justizsysteme wurde bereits im Urteil Süßmann/D hervorgehoben. Der GH verkennt keineswegs, dass die Möglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber beschränkt sind, sollte letzterer eine Reform von Gesetzesbestimmungen anstreben, die Gegenstand von anhängigen Verfassungsbeschwerden sind. Andererseits ist gerade die Justiz aufgerufen, lange Verfahrensdauern zu vermeiden, da sonst ihre Effektivität und Glaubwürdigkeit in Frage gestellt werden könnte.
Im vorliegenden Fall konnte die Reg. nicht überzeugend darlegen, dass es dem Bundesverfassungsgericht nicht möglich gewesen wäre, § 1711 BGB aufzuheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung an die Zivilgerichte zurückzuverweisen – die dann zur Klärung der Frage aufgerufen gewesen wären, ob dem Bf. ein Besuchsrecht für seine Tochter nach Lage der Dinge einzuräumen war oder nicht. Schließlich ist auf § 32 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht zu verweisen, wonach das Bundesverfassungsgericht einstweilige Maßnahmen sogar ohne entsprechenden Antrag des Betroffenen anordnen kann. Die Dauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht war somit nicht mehr angemessen. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
Was den Zuspruch von immateriellem Schaden anlangt, stellt das Urteil selbst eine ausreichend gerechte Entschädigung dar. EUR 1.800,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Urteile Süßmann/D v. 16.9.1996 (= NL 1996, 136 = EuGRZ 1996, 514 = ÖJZ 1997, 274); Glaser/GB v. 19.9.2000 (= NL 2000, 180).
C.S.
[editiert: 15.01.05, 20:23 von Ingrid]